Der japanische Patient
Der japanische Patient
Bericht vom 17.8.2018:

Mein Patient kam vor vier Wochen zu mir, er war zuvor schon ein Jahr an der Front in Oberschwaben. Dort wurde er verletzt und vom Aufnahmelager in Biberach zu mir gebracht. Er war in einem schlechten Zustand, war aber von den gröbsten Verschmutzungen befreit. Er wurde gut gewaschen und lagernd zu mir transportiert. Beim Transport war er gut ausgepolstert, so dass er keine unangenehmen Erschütterungen erleben musste.

Ich war sehr aufgeregt, weil das mein erster Patient war, der aus der Ferne kam – aus dem Fernen Osten. Er kam hierher, ich konnte seine Sprache nicht. Zuerst wurde er vorsichtig von der Trage genommen und ans Fenster mit Blick auf die Berge gelagert. Meine Hilfsschwester hat sich zwei Wochen um ihn gekümmert und ihn gefüttert, gewaschen und getröstet. Nach zwei Wochen habe ich dann begonnen, ihn selbst zu pflegen. Zuerst untersuchte ich seine rechte Gesäßtasche an, die leicht verletzt war. Weitere kleine Verletzungen an den Oberschenkelinnenseiten waren zu sehen, aber sehr starke Verletzungen an den Beinen. An beiden Beinen vorne und hinten. Sie waren so stark verletzt, dass sie noch heute sehr vernarbt und bis heute noch nicht gut verheilt sind. Die größte Herausforderung aber war die Leistengegend, da musste ich vorsichtig arbeiten, noch einmal alles säubern und eine Meisternaht nähen, damit die Narben später nicht sichtbar sind an diesen Stellen und diese Stellen wieder voll beanspruchbar sind. Es war eine Art Transplantation fällig, weil der Stoff fast verschwunden war und dieser Bereich sehr empfindlich.

Fasse ich den japanischen Patienten an, spüre ich seine Besonderheit: der feste blaue Jeansstoff mit der besonderen Webkante wurde sorgfältig und liebevoll hergestellt und ist schwerer als bei den meisten Patienten. Dennoch ist er weich. Seine Tragespuren und Falten sind so persönlich wie ein Buch. Sie zeigen sein Leben. Auch ist jede Naht perfekt genäht, alles durchdacht mit den Farben und schönen Details wie: die zwei Streifen auf der Gesäßtasche, das kleine Stück pfirsichfarbene Selvage Kante an der Uhrentasche rechts und links, die Jacquardtaschenbeutel, die verdeckten Nieten unter den Gesäßtaschen, der pfirsichfarbene Faden an der Beininnennaht, das Lederschild mit seinem Namen…

Nun, da jetzt die Entlassung bevorsteht, merke ich, dass ich ihn ins Herz geschlossen habe: Wir haben viel am Fenster gesessen, er hat sich an der frischen Luft regeneriert, manchmal haben wir Schwestern mit ihm im Dunkeln gesessen und haben sein Händchen gehalten. Viele Wochen hat er mich am Morgen begrüßt, war immer freundlich und am Abend hat er mir gute Nacht gesagt (das habe ich auf japanisch gelernt: おやすみなさい ) bevor ich ins Bett gegangen bin. Nun entlasse ich ihn sehr ungern, weil wir miteinander gelacht und auch manchmal vor Verzweiflung geweint haben, weil ich mir nicht sicher war, ob dieser Patient wieder gesund wird, vollkommen gesund.

Er wird mir in Erinnerung bleiben: Mein erster japanischer Patient.

 

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